Dienstag, 20. Oktober 2009

Lesungen von Legasthenikern

Wenn mehrere, zumeist junge Mädchen im Alter zwischen zirka elf und sechzehn Jahren, mit einer Gratis-Pendlerzeitung in der Hand, die öffentlichen Verkehrsmittel besteigen, dann ist mit der bis dahin schon nicht wirklich vorhandenen Ruhe definitiv schnell vorbei. Mit einem für Normalsterbliche nicht auseinander zu haltenden Geschnatter und Gekichere werden die ins Auge gefassten Sitzplätze in einer undurchschaubaren und komplizierten Art und Weise unter den Mädchen verteilt und in Beschlag genommen. Wichtig dabei scheint eine gewisse Hackordnung und Vorliebe für geduldete Sitznachbarn und dem gegenüber Platz Nehmenden. Wenn die Sortiererei zur Zufriedenheit der Teilnehmenden endlich ein Ende gefunden hat, beginnt die eigentliche Tortour für die Mitreisenden.

Die Mädchen beginnen die Zeitung zu lesen.

Nicht, wie der durchschnittliche Normalbürger, indem er sich die für ihn wichtigen Bereiche in aller Stille zu Gemüte führt. Nein, denn das ist ja altmodisch.

Die jungen Dinger müssen sich die Artikel gegenseitig vorlesen.

Da sich aber jede von ihnen mit den Lärm erzeugenden Musiktampons die Ohren verstöpselt hat, braucht es kehlkopftechnisch einiges an Volumen, um die dann nötige Dezibelzahl zu erreichen, dass die Freundinnen das Dargebrachte auch verstehen.

Unglücklicherweise haben aber die abgesonderten Worte noch die chromglänzende Barriere einer mordsgrossen Zahnspange auf dem Weg ins Freie zu überwinden, weshalb sie dann auch ein wenig zischend und lispelnd bei den Zuhörern ankommen.Um dem Ganzen aber die Krone aufzusetzen, bieten diese selbst ernannten Vorleser eine katastrophale Vergewaltigung des geschriebenen Wortes dar, die jedem halbwegs der Sprache Mächtigen die Ohren zum Bluten bringen.

Sie stottern und stolpern durch den Text, der in den Pendlerzeitungen doch eher einfach gehalten ist, als würden sie aus einem in Altlateinisch verfassten Medizinaltraktat vorlesen müssen. Bei jedem dritten Wort wird die Zeitung näher an die Augen geführt, um zu erkennen, was da für ein Wort steht. Aussprache und Betonung der Zeilen erinnern manchmal schon sehr stark an die Ausführungen eines Legasthenikers der ersten Güteklasse.

Was genau lernen die Kinder heutzutage in der Schule? Lesen und Schreiben sicher nicht mehr. Denn was sich Tag für Tag offenbart bestätigt die katastrophalen Ergebnisse der Pisa-Studie. Aber diese Studie ist eigentlich auch ziemlich sinnlos, da sie von den Betroffenen eh nicht gelesen werden kann.

Aber nun verstehe ich auch die Namensgebung der Studie.

Um unseren Nachwuchs steht es wie mit dem schiefen Turm von Pisa:

Schräge Haltung, kurz vor dem Umfallen und ohne fremde Unterstützung keine Chance.


© geschichtenerzähler

9 Kommentare:

  1. Super Post, gut geschrieben. Aber so etwas gibt es nur in der Schweiz.....bestimmt...jedenfalls die Pendlerzeitung.

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  2. So ernst es auch ist, ich musste trotzdem lachen. ^^
    Ich würde die Schuld nicht nur beim Bildungssystem suchen. Es beginnt schon in jungen Jahren zu Hause. Viele Eltern lesen ihren Kleinkindern z.B. nichts vor was zur Sprachförderung nicht unbedingt beiträgt. Es ist der Fluch unserer Gesellschaft. Job und Familie lassen sich schwer unter einen Hut bringen und Zeit ist Mangelware. Vor allem wenn beide Elternteile Vollzeit arbeiten. Dennoch sollte man versuchen seine Kinder spielerisch zu motivieren und zu fördern, dann klappt es auch mit der Pendlerzeitung. Mein Tipp an alle jungen Eltern: Nehmt Euch die Zeit, es lohnt sich. Ich jedenfalls freue mich jeden Tag auf die Gutenachtgeschichte für meinen Zwerg.

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  3. Du bringst es glänzend auf den Punkt!
    Teenies, die sich bei ICQ ihre Hirnfürze per frei interpretierbarer Jugendsprache zuballern brauchen weder Rechtschreibung noch Grammatik.

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  4. Wer braucht den heute noch zu lesen? Es gibt doch Hörbücher.

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  5. Tja, lesen und schreiben sind eben nicht cool genug... Dabei: wenn die wüssten was sie da jeweils verpassen! Und: toller Post, mal wieder!

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  6. Was die heutzutage in der Schule lernen, frag ich mich jedes mal bei unseren Azubis... grauenhaft... aber Dein erzähltes ist ja noch viel schlimmer!
    Und wieder mal super geschrieben! :-)

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  7. Sensationell!!!hab´sehr gelacht ---obwohl es ja eigentlich traurig ist----Gruss Trude

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  8. @ exhausted: so eine Zeitung habt ihr in D nicht?
    @ Imperator: da gebe ich dir völlig recht. Wichtig ist meines Erachtens auch, dass man die Kinder von klein auf schon für das eigene Lesen und Schreiben begeistern kann. Vor allem das Lesen.
    @ Lilly: korrekt, ich als Aussenstehender verstehe die Sprache schon fast nicht mehr ;-)
    @ derklingler: klar doch ;-) Aber so unwichtige Formulare wie Steuererklärungen oder sonstiges gibt es aber noch nicht als MP3 ;-)
    @ Nordlicht: da hast du recht, denn die schönsten Filme laufen im Kopf ab, wenn man ein Buch liest....
    @ Mr.Elch: und das Erlebte ist wahr, keine Erfindung... das ist das Schlimme daran...
    @ Trude: ja, eigentlich ist es traurig..

    @ Alle: danke für euer Lob, werde die Augen und Ohren weiterhin offen halten für solche Geschichten ;-)

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