Neulich in der gut frequentierten Fussgängerzone. Weil mein Blick nach rechts gerichtet war, rempelte ich links einen mir bis dahin völlig Unbekannten an. Da im Duden unter „Ausgesuchter Höflichkeit“ mein Bild abgedruckt ist, entschuldigte ich mich auch sofort bei meinem Rempelopfer:
„Entschuldigen Sie bitte, das tut mir Leid,“ sagte ich freundlich lächelnd.
„Wie bitte?“ war die erstaunte Antwort, begleitet von einem alles Leben vernichtenden Blick, „es tut Ihnen Leid? Was soll denn ich sagen? Mir tut es viel mehr Leid!“
Ich war erstaunt über die harsche Reaktion und beeilte mich, mein ehrlich gemeintes Bedauern erneut kund zu tun:
„Es tut mir wirklich Leid, war keine Absicht.“
„Keine Absicht,“ erwiderte mein Gegenüber herablassend, „warum tun Sie mir dann Leid? Mein Arm schmerzt ganz arg!“
„Wieso tue ich Ihnen Leid? Mir ist ja nichts geschehen, sie haben Schmerzen,“ antwortete ich verwirrt, „darum tun Sie mir ja auch sehr Leid.“
Die Gesichtsfarbe meines Gegenübers nahm allmählich die Farbe einer reifen Tomate an, als er mich vor den immer zahlreicher uns umstehenden Gaffer anschrie:
„Ich habe Ihnen nicht Leid getan,“ brüllte er und spuckte dabei Speicheltröpfchen vor sich her, „Sie aber mir, Sie Depp, und wenn sie etwas Anstand hätten, würden Sie sich bei mir richtig entschuldigen!“
Meine Verwunderung stieg ins Masslose. „Ich habe aber doch gesagt, dass Sie mir Leid tun,“ versuchte ich den Typen zu beruhigen. Aber das war wohl der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit einem gekreischten „Jetzt tue ich Dir aber wirklich Leid!“ sprang mich der Wahnsinnige an, in dem Bestreben, mich zusammen zu schlagen.
Es folgte ein minutenlanges Gerangel, bis uns vier herbei geeilte Polizisten mit Mühe trennen konnten. Nach eingehender Erläuterung der Situation konnte einer der hilfsbereiten Beamten dem von mir Angerempelten erklären, dass unsere Meinungsverschiedenheit nur darauf zurück zu führen sei, dass seit dieser unsinnigen Rechtschreibreform das Wort Leid immer gross geschrieben und ausgesprochen wird. Und seitdem ist nicht mehr klar, welches Leid denn nun gemeint sei und die Polizei deswegen alle Hände voll zu tun hat, um ineinander verkeilte Gegner zu trennen.
Wenn man also in Zukunft Leute bei einer Schlägerei sieht, dann wahrscheinlich deshalb, weil sie sich gegenseitig Leid tun.
© geschichtenerzähler